Newsgroups: de.etc.bahn.misc
Subject: Re: Endstation Chaos
From: Helmut Barth <Helmut.Barth@arcor.de>
Date: Wed, 18 Nov 2009 18:57:13 +0100
Message-ID: <4b04357d$0$6734$9b4e6d93@newsspool2.arcor-online.net>

Salut!

Alice Müller schrieb:

Ich stelle mir ganz gut vor, daß es aus der Beamtenbahn kommt, wo jeder strikt nach Dienstplan nur seinen Aufgabenbereich hatte und sich keiner um des anderen Job geschert hat.

Du musst es ja wissen. Meine Erfahrung ist allerdings eine andere. Zu Bundesbahnzeiten war die Zusammenarbeit nach meinem Empfinden deutlich besser, da sich nicht jeder auf "andere Firma, geht mich nichts an" zurückziehen konnte und wollte. Ein Betriebseisenbahner sowieso nicht. Für den steht der sichere und pünktliche Bahnbetrieb im Interesse der Kunden an erster Stelle.

Eigenverantwortung gleich Null.

Ah. DB AG und Eigenverantwortung. Schöne Story aus den ganz ganz frühen Nach-GB-Traktion- und Handyzeiten (ca '95 oder '96): Ein Lokführer der ganz jungen DB Regio soll eine Cargo 155 für eine spätere Eilzugleistung von der Unterflurdrehbank in Plochingen nach Stuttgart holen. Als ich
für ihn beim Oberlokdienst eine Zugnummer erfrage, erfahre ich von einem liegengebliebenen IC in Reichenbach (kaum 5km von Plochingen entfernt).

Ich biete meine Hilfe an, da ich weiß, daß der Lokführer in Plochingen mich wegen einer Zugnummer gleich nochmal anrufen wird. Man bittet mich zu warten da man damals das noch relativ neue DB-Monopoly (wer-zahlt-was? mit "Spielgeld") spielen wollen musste.

Als mein Mann in Plochingen sich meldete, bat ich ihn, noch nicht abzufahren, da er ggf. den liegengebliebenen Zug holen sollte. Vom möglichen Geschehen praktisch ein Hauptgewinn: Ein just liegengebliebener Zug und eine besetzte Hilfslok kaum 5km weg.

Durch einen Zufall (oder auch eine beabsichtigte Verwechslung vor Ort, keine Ahnung) haben sich der Lokführer und der Fahrdienstleiter über den Ortsfunk ebenfalls abgesprochen und bevor die Oberlokleitung ihr OK geben konnte hing der IC am Haken der 155. Als das verhaltene und beschränkte ("erstmal nur bis Plochingen") Ok kam war der Zug schon in Plochingen durch und ehe man sich versah war der Zug in Stuttgart am Prellbock. Für mich schien der Fall gegessen: Der Zug war von der Strecke, meine Lok und die kaputte Lok waren auf dem Weg ins Bw und die Reisenden konnten mit minimalen Beeinträchtigungen weiterreisen, da in Stuttgart ohnehin Lokwechsel war.

Eine viertel Stunde später gab es Chefbesuch: Ich hätte meine Kompetenzen überschritten, die Entscheidungsreihenfolge übergangen und überhaupt "wie sollen wir einen Regiolokführer mit einer Cargolok vor einem R&T Zug abrechnen?". Der Eisenbahner in mir hat schneller "Was interessiert mich wie was gerechnet wird, die Reisenden wollen weiterkommen." gesagt als ich denken konnte. Die Reaktion darauf hat mir wirklich sehr viel Freude am Eisenbahnerdasein genommen.

Mir ist sowieso aufgefallen, daß je größer ein Betrieb ist, desto weniger Eigenverantwortung zeigen die Arbeiter, weil es keiner honoriert und weil es keinen interessiert.

Manglendes Interesse könnte ich jetzt noch nicht einmal beklagen. Das Problem ist vielmehr, daß man bei der Bahnprivatisierung funktionierende Strukturen zerschlagen hat und im Zuge der Vereinfachung und Vereinheitlichung sehr viel kompetentes Personal abgebaut hat. Erschwerend kommt hinzu, daß man, um weniger kompetentes, sprich gerne auch "billigeres", Personal einsetzen zu können, die früher teilweise recht lockeren Regeln immer enger geschnürt hat um Eigeninitiative durch weniger kompetentes Personal zu erschweren. Das dient manchmal der Sicherheit im Betrieb, aber häufig auch nur der Absicherung Interessen der unterschiedlichen Bahnbetriebsteilnehmer untereinander.

Zudem kommt durch die Firmenvielfalt im Konzern immer mehr das Wettbewerbsrecht zum Tragen, welches übermäßiges unentgeltliches Zusammenarbeiten auch erschwert. Inzwischen sind wir ja soweit, daß per Netzzugangsbedingungen geregelt ist, wer wem zu welchen Konditionen wie Hilfe leisten muss.

Diveres Qualitätsmanagements und andere Managerinstrumente erschweren es einem zusätzlich, noch Initiative zu zeigen:

Ich habe keine Ahnung, was heute passierte, wenn man seiner Lok den dringend benötigten Sand eigenhändig reinschaufelt, weil der damit beauftragte gerade seine Arbeitsschutzpause hat. Wenn allerdings die Lok wegen dem Auftrag "Sand fassen" ins Werk gefahren ist, darf sie erst wieder raus, wenn das ganze im SAP korrekt verbucht ist, was der Tf selbstredend mangels Zugang zu einem geeigneten System nicht erledigen kann und auch eigentlich nicht will.

Fährt man allerdings offiziell nur zum Parken ins Bw und fasst den Sand selbst, also quasi schwarz, weil man den Betrieb im Blick hat tillen, die SAPler gleich ganz und hetzen mit "wir haben 25t Sand gekauft und nur 18t ausgegeben und trotzdem ist nichts mehr da" allen die "Werkspolizei" zur Sandprobenentnahme in den heimischen Sandkasten im Garten. Ich möchte gar nicht wissen, ob man da dem Tf nicht gar eine Beihilfe zum "Sanddiebstahl" anhängen könnte, wo der doch eigentlich nur am nächsten Signal wieder sicher bremsen können möchte ...

Wer jahrelang solche Kaspereien mit anschaut, der klemmt sich irgendwann beim Betreten des Bahngeländes 'ne Wäscheklammer über die Initiativdrüse und macht nur noch seinen Job. Ab und an bekommt er etwas Augentinitus, weil er dort wo es mal richtige Eisenbahner mit Ahnung und Leidenschaft gab heute nur noch Pfeifen sieht.

Grüßle, Helmut